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Tag für Tag -- Der poetische Moment
Reinhard Rakow Zu schaffen ein Abbild
Nein zeig mir nicht die Tonfolge. Gott pfeift am schönsten stets auf dem letzten Loch. Clockwork. Der Speichelfluß von unten anschwillt, in dir den Schlund zu füllen. Das Kammerkonzert vorgestern Ludwig. Im Nachgang der Pianist: Diskurse zu Lichtenberg Kubrik und Russell. Bertrand Russell. Rusell first of,
als sei so zu fühlen das Zerren gegen den geraden Strich. Farben die unbesoffen machen. Ritter ohne den goldenen Helm. Lichter die statt zu toben zerfallen in Alb und in Traum. Grau atmet die Lineatur. Hinter den sieben Bergen da wohnt der liebe Gott. Verwaschen. Aufgelöst. Unfaßbar unstofflich.
Nein sage mir nie ein Abbild. Weil es nur verwirrt, entfernt. Der Grund unberührt. Die Form niedergemacht von Zweifeln, motivloses Motiv. Wer wartet auf Godot? Der Fremde, bekannt namenlos. Ein weißes Zeichen die Wolke über Berts Pflaumenbaum. Gleichungen und Formeln, Beweise: nicht zwingend. Nur scheinbar.
Und siehe, ich bin das Licht.
Reinhard Rakow Auf meinem Weg
Auf meinem Weg die Geraden. Links rechts ganz außen. Daneben, beidseits, in neunzig Grad und Farblichkeit inkompatibel. Erst das Geröllhafte! Findlinge Brocken Steine, Splitter gar. Einer ließ die Türe offen, jetzt strömen sie herein. Natürlich denkt man immer: muß so. Streng und weißt schon. Ha! Darf man nicht alles glauben. Der ist ja schon über, na jedenfalls nicht mehr modern.
In meiner Heimat die Schulen. Beton, soweit man blickt. Käfiggehaltenes Menschenklein beim Üben von Auslauf, darüber ne Süßwolke Dope. Clock Hahnenschrei Ende der Pause. Auf dreißig komma zwei Köpfe, herausgeputzt mit Lack, grün, lila, echtgelb, henna je eine Filzmatte mittellang und weißgrau. Im Saniraum riechts feucht nach Möse. Im Klo der Kondomat klemmt. Damals schon der auch.
Und dann der Blick nach vorn. Voll ungemalter Bilder. Aus Schwarz-und-Weiß-Schraffuren schält Farbe sich wie aus verdorbnen Tuschen. Wenn du die Brille absetzt. Oder wenn du die Augen kneifst. An Rändern ungeschärft. Und eine Million Gedichte. Wahrscheinlich aber mehr. Und alle, ohne "alt" nur zu denken. Ob das noch Streifen sind? Verwoben und fahrig wie Helix. Vielleicht
auch Schlangen aus Linien. Weiß man wenigstens wohin das nicht führt. An den Seiten die Irrtümer. Sehnsuchtsabraum, Halden aus Fluch. Verwünschungsdeponien an Farbseen rot wie erhitzte Milch. Am Horizont kräuselt die Gnade. Hat für sich entschieden, daß alles gut werde. Der Rest bleibt links liegen. Warum auch solls nicht funktionieren. Nicht alles zerreden, vertrauen. Schau vorn doch
auf meinem Weg die Geraden die Streifen die Locken das Licht.
Reinhard Rakow Atempause (Stell dir vor, du wachst auf und bist tot.)
Stell dir vor, dein Atmen pausiert mag sein, ein Wassertropfen hat sich in deinem Hirn verirrt,
Nichtsein, wobei in blauer Schärfe ganz weit und wild und still des Lebensfilms Licht Schatten werfe,
mag sein, ein Molekül hat seine Ionen falsch gebunden so daß dein Atem enden will,
urplötzlicher Druckabfall. Grenzgeher aus dem Lot chemischer Betriebsunfall, sein Fortgang ist dein Tod.
Reinhard Rakow die heimkehr des odysseus
komm lass uns nach hause gehen die reise war weit und müde sind meine füsse vom langen marsch durch die ebenen trocken meine haut vom salzigen wind tief in den höhlen da kannst du mich suchen
ach die tage waren sehr lang und voll an ehren und aufmerksamkeiten zuhauf dein brot täglich zu dir genommen am kalten büffett zwischen lachsschnitten und kräckern den pikkolöchen im zweireiher mit fliege höflich das lachen befreit nach der wahl zum nächsten posten der nächsten sitzung nächsten ausschuß höheren ehren kostbareren düften dickeren autos superplus super qualmend havannas der qualm in langen fluren fensterlos langen fluren zu ober- unt´ staatssekretären gerötet den teppich und wichtig mit grüner tinte der bedeutung angemessen die leiter deiner erfolge
ach die straßen waren so lang und so endlos die fluchten das grau von zement von asphalt spiegelt in lachen von regen und öl fahren nur fahren stundenlang tagelang fahren meile für meile fliehen den alltag gleichförmig berauschend benzin-high fortlaufende wattzahl lautsprecher vernebelt drei liter schwebend auf sitzbeheiztem ledergestühl um den schaltknauf edelmetallen die rechte die hoffnung das herz den gasfuß zum anschlag fliegen nur fliegen stundenlang fliegen fliegen die brücken die schilder die wälder die brücken und fliegen und fliehen den alltag
ach die städte waren so kostbar und voll der annehmlichkeiten des schönen scheins der zerstreuung paläste gediegen gefüllt mit schönen menschen zerstreuend die leere der bahnsteige der bahnhofsuhren gnadenlos laufend vernichtend die leere der zeit im schönen schein der neonreklamen da draußen und flackern aufregend im dschungel der großstadt verwegen die zeiten überall schöner die tempel des einkaufs der lüste zu kosten zu teuer vorgebend die höhe des geldes die tiefe der sehnsucht die schwärze des scheins
du ich habe sehnsucht nach sperrmüll komm mit mir heim in den unrat den sammelplatz von sich-gehen-gelassenem ans lagerfeuer der uneitelkeiten bedeckt mit lagen von flockigem hausstaub auf kübeln steinhart gewordener brote an türmen achtlos ungelesener bücher margarine- gefettet kaffeegetränkter zeitschriften an wänden die gelb sind und naß sind von spor und von pisse von katzen die haare sich paaren mit fliegendreck schmeiß- fliegen sich laben an verwesend der leiche einer beziehung
komm lass uns nach hause gehen die reise war weit und müde sind meine füsse vom langen marsch durch die ebenen trocken meine haut vom salzigen wind tief in ihren höhlen da findest du meine augen
Georg Büchner (1813 - 1837) Der Hessische Landbote Erste Botschaft
Darmstadt, im Juli 1834 Vorbericht
Dieses Blatt soll dem hessischen Lande die Wahrheit melden,
aber wer die Wahrheit sagt, wird gehenkt, ja sogar der, welcher die Wahrheit liest, wird durch meineidige Richter vielleicht gestraft. Darum haben die, welchen dies Blatt zukommt, folgendes zu beobachten:
Sie müssen das Blatt sorgfältig außerhalb ihres Hauses vor der Polizei verwahren;
sie dürfen es nur an treue Freunde mitteilen; denen, welche sie nicht trauen, wie sich selbst, dürfen sie es nur heimlich hinterlegen;
würde das Blatt dennoch bei Einem gefunden, der es gelesen hat, so muß er gestehen, daß er es eben dem Kreisrat habe bringen wollen;
wer das Blatt nicht gelesen hat, wenn man es bei ihm findet, der ist natürlich ohne Schuld.
Friede den Hütten! Krieg den Palästen!
Im Jahr 1834 sieht es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt:
Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt.
Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache;
das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln.
Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen.
Reinhard Rakow nie wieder
neulich als der himmel kino spielte vor luzidem grund aus azur umgerührt rattengrau und schieres reinstes gleißendes weiß (titan, zink, meister propper)
dunstbäuschchen mausfellgezupfte voreinanderher trieb überholend ein fettes wolkenmassiv dessen lichte feingelb infiziert schienen oder ocker der ikterische kontinent freilich
überlagert von einem nomadierenden zug violetten geflockes mancherorts an einen riesigen vogel gemahnend der aber rasch sich verlor zerstob im von verborgener sonne gekitzelten wind
um lidschläge später aufzuquellen dank blubber~ himmels hefe bauchig prall mächtig mählich bewegt stumm von einem wolkenzieher (das weiß hatte orange gesoffen inzwischen)
fiel mir die letzte ausstellung ein die ich besucht hatte und mein nachbar und mein schütteres haar und ich dachte:
nie wieder
Reinhard Rakow entlang der straße
entlang der straße stehen bäume aufgereiht mit hohen stämmen, ast-, zweig-, blattlos fast wie telegrafenmäste; der kopfputz, spärlich und zerzaust, erzählt vom werk eifriger motor- sägen: natur, natur ... — so weit das auge reicht, so weit der tank: wo weites land, recht- eckig arrondiert, nützliche flächen fügt, kunstphosphatgrün gedüngt, asphaltgehalten von wald gefolgt, schnellwüchsig holz, umzäunt mit maschendraht, und braunes ackerland aufwendig tiefdrainiert, mit gift desinfiziert der landmaschinerie die schläge aufbereitet ... in nachbarschaft das weidegras, ein reservoir für rind-, schwein-, hühnerschiss, schwarzweiß bewuchert fleck um fleck, elektrozaun- gepierct: landschaft, landschaft ... ein traum von traum, zu end geträumt vor zeit, darin geteert ein hof, glas-, altpapier-container vor einem supermarkt, parkbuchten, einkaufs- furt, leitplanken, schild um schild, danach, fein ziseliert, vorgarten an vorgarten, zierblumen- reich bestückt, und da ein haus und dort ein haus zerfallend und geputzt, gewienert und gefegt radwege bürgersteig, tankstelle, lagerbau und -fläche, ne brache voll gestrüpp an fabrik- scheunenflucht, nun eine ampel hier, hinter dem kiosk alt ein fahrradmofastand, beton durch den die distel bricht, der queck und die brennnessel. so eilt der ort vorbei und endet während der fahrbahnpfähle kette schlägt ihr schwarz auf weiß, geschrägt, um reflektoren: natur, natur ... erzählt vom fraß der motorsägen an hohen stämmen, ast-, zweig-, blattlos fast wie telegrafenmäste. es stehen bäume aufgereiht entlang der straße —
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