Lhasa es pocht scharlachrot. Gedichte
Reinhard Rakow (Autor)
Books on Demand 2001
ISBN: 3831113777
Paperback 218 Seiten, 14,57 Euro
Cover: Reinhard Rakow
“Lhasa es pocht scharlachrot” - der Titel zu Reinhard Rakows Buch ist seinem Gedicht “Rendezvous” entnommen. Diese Wahl ist Programm. Beim Lesen des Gedichtes nämlich erschließt sich, wovon es handelt, mit wem das Rendezvous stattfinden wird: Es sind die letzten Worte eines Sterbenden, der auf den Tod wartet, ihn dankbar begrüßt (“bist spät dran”). Die Präsenz, ja: Intimität des lyrischen Ich schlägt in diesem Gedicht, ohne dass der Leser dessen sofort gewahr wird, um in Verzweiflung, Schmerz, verliert sich im Abgrund. Eben dies ist eines der Grundprinzipien der Gedichtsammlung selbst: das stete Nebeneinander von Freud und Leid, deren wechselseitige Durchdringung, die flirrende Ambivalenz des Augenblicks, die nicht selten glücklos endet (Beispiel: “flieg kleiner fratz flieg/ himmel die weite hui diese/ ferne betäubend// improvisiere geflügelt bist ein/ kleiner engel azur der stratosphäre/ plötzlich so nah halt den atem an plötz-// licher/ kindstod.”)
Ein weiteres ist Rakows Bekenntnis zur Stil-Losigkeit - in dem Sinne, dass er klassische Gedichtformen zwar nutzt, benutzt, wie es ihm passt, sie indes mit Kabinettstückchen moderner Lyrik und selbst erfundenen Formen gnadenlos mischt: So stehen ziselierte Sonette neben Prosagedichten in Kleinschreibung, so zählt der Germanist die Jamben, freut sich über brave Alexandriner - und findet sich wieder in einem lautmalerischen “Gedicht”, dem ein Metrum beim besten Willen nicht überzustülpen ist. Zur Vielfalt von Aussage und Form gesellt sich die der Inhalte. Zarte Liebesgedichte und kleine Stimmungsbilder findet man ebenso wie Elegien, sprachspielerische Versatzstücke zur Befindlichkeit der Mainstream-Gesellschaft leiten über zu zeitkritischen Gedichten, deren Schärfe ihresgleichen sucht (“jahrestag”, “grosny”, “ode vom aus.lesen”). Die rund 200 Seiten des Gedichtbandes sind so zu einem einzigen Anschlag auf die Lesegewohnheiten von Otto Gedicht-Verbraucher geworden. Anlasten kann man Rakow allenfalls, mit seinen Ein- und Ausfällen, An- und Zumutungen nicht hausgehalten zu haben. Nach diesem oder jenem Gedicht legt der Leser, gerührt, verwirrt, verstört bisweilen, das Buch aus der Hand, um sich erst einmal eine Atempause zu gönnen.
Auszüge:
verfehlt
ankomme in b. siebzehn
uhr zehn ab vier haben
sie geschlossen
großer platz in fremder
stadt kaltes licht auf
blauen granit
unwirtliche klötze beton
reflektieren beißend
des himmels weiß
scharfe winde treiben
wolken aus ocker
mir ins gesicht
wollte dich anrufen
weiß deine nummer
nicht mehr.
hauch
draussen kein laut
durch die lamellen hindurch
gleißendes licht
reglos
das die stille noch verstärkt
unvermutet
in abgestandener luft
ein hauch kühl
deck dich wieder zu
liebes
ich erzähl dir was
von kühlschränken
oder dass
heute
früh unter der dusche habe ich an
dich gedacht und
als ich mich abtrocknete stand
vorm fenster
ganz nah
ein
regenbogen sei
still
bestellung
erscheinungsjahr: ungewiss, fiel-
leicht lieferable binn dreiwisfier wochn
oder monde oder iaare
oder meer oder nich,
gleichsam mit weit offenem ende
wie der verlach, bei dem es dereinst erschienn,
geseent vom zeilichen, changing
et nos in illis, memento bloß mori
und vor allm respize finem,
wie das endn soll, ja wie, ich für mich
wees et ooch nich, bin sozusaan
konfusioniert irritierendes opfer
von einem black out, heißt was: das: sie finden
mich sprachlos, sprachlos wie die aktuelle
lürik, auch sie nur ein opfer,
nur zeitgeistdeterminiert aufgeblasene
hylsn, sinnentleert, angesiedelt
schon sprachlich auf
allerniederigstem nie-
wo : na eemt
in jenem ehemalien verlach, wobei
sich mir zu erschliessn beginnt:
aientlich mainte ich jiits
unnich dscheus.
ode vom aus lesen
1.
das institut.
die villa.
der gang.
die kellertreppe.
die brettertür.
die holzregale.
die weckgläser.
die zinkspangen.
das formaldehyd.
die gehirne.
2.
nach dem aushauchen verlangt der primarius
zuvörderst das hirn. es wird dazu der tote schädel teil-
rasiert. aufgetragen fettstiftig die trennlinie für den sauberen
schnitt. von sterilen greifern fixiert die hautlappen beidseits der elektrischen knochen
säge den akkuraten zug zu
bereiten. so der kreis der vollendung
sich zu nähern beginnt es
größter sensibilität bedarf zu entnehmen die weiche
masse diese zu reinigen und
umzusetzen ins glas behutsam ohn
jeden schaden. all dies
ist vorrecht des
primarius selbst.
3.
der herr hats gegeben der herr
soll es nehmen. das leben einfach
wegzuspritzen wäre die sache nicht eines
humanisten eines christen eines der leistete
den eid des hippokrates. ist die entscheidung gefallen wird
der herr gerne unterstützt im seinem nehmen durch
beibringung von schlafmitteln hochdosiert wie gelegentlich
medikamente zur herbeiführung von brechreiz. die probanden
fallen in einen dauerschlaf der sie nicht essen lässt. wer
erwacht schlafmittelvergiftet und isst speit nach einer
injektion alles wieder heraus. so geschwächt
schläft er alsbald wieder ein unbedeckt am offenen fenster. die lunge i
n dem ausgemergelten körper viren und bakterien willkommene
heimstatt bis röchelnd im schlaf
er dahingerafft ist vom fieber das
der herr geschickt hat
4.
auffällig geworden jenes kind durch
seinen klaren blick aus einem wasserkopf. zwar schubweise
heimgesucht von krämpfen die seinen dürren körper schüttelten dass der schaum vom mund weg schleuderte wie aus einer zentrifuge dass
der riesenschädel hin- und herschlackerte
sich von den konvulsischen gliedern zu trennen drohte dass
nur noch die spritze den beelzebub austreiben mochte dass
gar den verrohten krankenschwestern angst wurde zeigte es
einsicht indes in seinen klaren momenten löste aufgaben die
manchem gesunden zu schwer gewesen wären
schien es fähig der reflexion und
nicht nur debiler anhänglichkeit sondern
scheinbar echter zuneigung. auffällig geworden
dieses durch seine verderbte schönheit wie
renitenz. genetisch determiniert durch mittlerweile
kastriert einen zigeuner und eine dunkelhäutige unklarer
volkszugekörigkeit bestand es aus großen tiefbraunen
augen die einen durchschauten und bis in den traum
verfolgten war es ausgestattet mit jener unbelehrbarkeit
die volksschädlingen eigen und nicht davon abzuhalten
einen so anzusehen
mithin therapieresistent.
es galt
zu ergründen –
5.
in den dicken büchern schwarz auf weiß
und von sehr weit oben
selektionsmuster
richtlinien kriterien
kataloge erlasse
verordnungen gesetze zum wohle
von wissenschaft
volksgesundheit
blutreinhaltung
erbgesundheit
zu vermeiden
geistes- drüsen-
muskel-
schwache
wasserköpfige riesenköpfige kleinköpfige
mongoloide zwergen wie riesen
offene rücken hasenscharten
ein- und anderthalbarmige
ein- oder keinbeinige
herz- oder nierenkranke
zuckerkranke
grippekranke
dunkelhäutige
schwarzhaarige
rothaarige
norm-
verletzer
aus rücksichtnahme gegenüber der allgemeinheit
ihrem wohlbefinden
ihren kassen oder was sonst
sich finden lässt zu verbrämen
den kitzel gott-
gleich –
6.
abzutöten ist der foetus durch kaliumspritzen
ins herz die nadel gesetzt auf die bauchhaut
geht sie durch ultraschall zielgeführt
daneben bisweilen die ersten paar male. andere
lassen entscheiden den herrn beschleunigen verstärken
wehen durch hormone hochdosiert welche
toxisch wirken dem foetus wodurch dieser
anvergiftet die strapazen in krampfender scheide
nicht übersteht oder so doch anschließend sein leben alsbald
aushaucht oder so doch nicht an einem zugigen fenster
abgestellt und dort versehentlich vergessen wird auch
in der fünfundzwanzigsten
woche
oder
später
7.
vollendet
hat der sohn des herrn
primarius jetzt seine
dissertation man hört von der industrie
lägen lukrative angebote vor schon seit monaten als bekannt
wurde er forsche an der verwertbarkeit von embryonen-
hirnen bei der herstellung von
medikamenten gegen
das hautaltern und nenne
sein eigen beste
beziehungen
zu einer frauenklinik.