Trotz alledem
Anthologie zu den Vierten Berner Bücherwochen
Hg.; Reinhard Rakow
Mit einem Geleitwort
der Niedersächsischen Ministerin
für Wissenschaft und Kultur
Dr. Gabriele Heinen-Kljajić
Geest-Verlag 2013
ISBN 978-3-86685-434-5
ca. 480 S., 15,00 Euro
Cover von Reinhard Rakow
Bild: "Es ist was es ist", 2000. Öl auf Leinwand, 100 x 100 (Zum Vergrößern bitte auf das Foto klicken).
Eine Anthologie zum Thema ‚Trotz alledem' präsentieren die Vierten Berner Bücherwochen. „Autorinnen und Autoren schaffen dort eine literarisch spannende Verbindung zu diesem historisch und politisch konnotierten Ausspruch“, schreibt Dr. Gabriele Heinen-Kljajić, die Niedersächsische Ministerin für Wissenschaft und Kultur, im Geleitwort dieses Buches. Mehr als 350 Autoren aus Europa und Übersee beteiligten sich mit über 1.000 Beiträgen an der Ausschreibung.
Vorwort des Herausgebers
Wie viele Schalen die Zwiebel ‚Trotz alledem‘ hat? Das wäre ein Germanisten-Seminar wert: Vom Dichter Robert Burns, Jahrgang 1759, wäre die Rede, vom Streben seiner Schotten nach Unabhängigkeit, von Thomas Paines Gedanken zu ‚The Rights of Man‘, von Jefferson und Abraham Lincoln. Freiligrath und seine verschiedenen Übertragungen von Burns' Gedicht gäben den Stoff für die schönen fetten Referate, in denen Stichworte wie 1848 und Märzrevolution und die Namen Karl Marx und Karl Liebknecht nicht fehlen dürften; die mannigfachen Um- und Dazudichtungen, die heute aktualisiert kursieren, markierten, Tonbeispiele inklusive, den süffigen Schluss des Semesters. Ja, es gibt Menschen, die die Verbindung ‚Trotz alledem‘ nicht denken können, ohne das Aroma der Geschichte, mit der sie sich vollgesogen hat, auf der Zunge zu schmecken. Einerseits. Andererseits hat sich im Laufe der rund zweihundert Jahre, die vergangen sind seither, der Geruch jenes Aromas merklich verflüchtigt. Die Patina des Vergessens und / oder lässige Flapsigkeit des gemeinen Sprachgebrauchs haben die Poren der äußeren Hülle versiegelt. ‚Trotz alledem‘ ist zum ‚geflügelten Wort‘ mutiert, kann man nachlesen, die Losung zur befüllbaren Hülse, in der sich also Vokabeln wie ‚trotz‘ verbergen lassen, ‚trotz allem‘, ‚dennoch‘ oder ‚doch‘. Das ist der Lauf der Zeit und als solcher nicht zu bekritteln, schon gar nicht in einer Anthologie, bei der die zugrunde liegende Ausschreibung zum losen, weiten Gebrauch anstiftete. 8 Und doch tut sich zwischen der Erwartung von Texten, die die politische Dimension des Freiligrath-Originals in die Gegenwart der Wohlstandsschere, der fehlenden Chancengleichheit, des Asylantenelends und so fort fortschreiben würden, und den tatsächlich eingesandten Beiträgen eine (in dieser Breite) dann doch nicht erwartete Lücke auf. Der Opel-Streik in Bochum, die Suche nach einem neuen Job, Alterselend, die hässliche Fratze des Kapitalismus in Gestalt eines Kriminellen im Big Business: Das sind Themensetzungen mit Ausnahmecharakter geblieben in diesem Buch. Wietere im – wie auch immer ausgestalteten – Subtext gesellschaftskritischen Inhalte (etwa zu Vergewaltigung in der Ehe, Pädophilie, Auseinandersetzung mit der Nazizeit) dieser Kategorie zuzuschlagen, ändert den Befund kaum. Die weit überwiegende Anzahl der eingesandten und der veröffentlichten Texte denkt ‚Trotz alledem‘ als ‚trotz (allem)‘, also nicht historisch, und dies nahezu durchgängig auch nicht gesellschaftlich, sondern individualistisch. Auch das ist Lauf der Zeit: Wir leben nun einmal in Verhältnissen, die den Einzelnen in erster Linie auf sich selbst zurückwerfen, in denen einem eigene Haut und eigenes Hemd näher sind / sein müssen als die noch so löchrige Jacke des Nachbarn. Insofern legt diese Anthologie beredt Zeugnis ab vom Zustand der Zeit, der Befindlichkeit und Verfassung unserer Gesellschaft. Emanzipation, eine der zentralen Kategorien des originären ‚Trotz alledem‘, meint nicht mehr die von gesellschaftlichen Zwängen, sondern die von eigener (privater) menschlicher Not und Bedrückung: Das Freisein, 9 die Milderung, die Überwindung von Krankheit – dies weit, weit vor allem anderen! –, von Altersgebrechen, von Liebesunglück ist es, was die meisten Texte verhandeln, autobiografisch konnotiert nicht selten, aber auch in vollendet funkelnder Fiktionalität. Im Kaleidoskop der privaten Nöte, Miseren und Anlässe, denen es zu trotzen gelte (stets freilich auf die Gefahr hin, dabei zu unterliegen) findet sich literarisch wie geistig Hochkarätiges, vor allem aber auch Überraschendes: Humor, in seinen apartesten Ausprägungen boshaft wie zauberleicht zugleich, Always look on the bright side of life. Und natürlich ist die souveräne Gelassenheit dieser Gebärde, Privatheit hin oder her, von gesellschaftlichem Gewicht (wie alles ‚Unpolitische‘ nur eine besondere Spezies des Politischen ist, Rosa Luxemburg lässt grüßen). Den Galgenhumor, den etwa ein von Familienbanden befeuerter Beitrag dank NSA-Skandal und Stasi verbreitet, muss einer erst mal zusammenbrauen. Vielleicht ist dieses Buch ja doch geschichtsbewusster und politischer, als es prima vista den Anschein hat. Auf einer Metaebene, sozusagen. Da ist der Sohn, der abzugleiten droht. Der Ziehvater inmitten seiner Anfechtung. Der vereinsamte Industrielle. Der Krebs, der frisst, aber noch nicht auffrisst. Hier und bei vielen anderen Texten scheint, zuweilen kunstvollst ungesagt, durch, was sie und Freiligrath zusammenhält: kleine Tagträume, Wunschbilder des erfüllten Augenblicks, kurz: Hoffnung, Hoffnung durchaus in einem konkreten, in einem Blochschen Sinn. 10 Vielleicht macht das ja die innerste Schale der Zwiebel ‚Trotz alledem‘ aus, ihre Knospe oder ihren Nukleus. Das, und was Freiligrath so in Worte fasste: „Trotz alledem und alledem / es kommt dazu trotz alledem / daß rings der Mensch die Bruderhand / dem Menschen reicht, trotz alledem!" In Paul Sankers Beitrag lässt sich der Held, ein ausgelaugter, ausgebrannter Arzt, anrühren vom Dank einer Geretteten, anrühren, um die Praxis einmal Praxis sein zu lassen – und sich der Familie zu Hause zuzuwenden. Das ist auch privat, gewiss. Aber auch schon mal was. Und mehr.
Reinhard Rakow